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Den Montag Vormittag verbringen wir im Krankenhaus. Wir sprechen zunächst mit der Ärztin Anna Tschobanian, die wir im Herbst für ein Praktikum am Krankenhaus in Meppen einladen. Zusammen mit ihr soll der Kinderchirurg Nikolai Dallakian kommen, für den wir noch einen Praktikumplatz suchen. Der Termin steht deshalb noch nicht genau fest.Wir sehen noch einige Patienten, unter anderem einen vierzehnjährigen Jungen, der bei der Explosion eines Fernsehgerätes schwerste Verbrennungen erlitten hat. Im Gespräch mit Raffi gehen wir die einzelnen Medikamente durch, die das Krankenhaus im Herbst von uns bekommen hat. Wir erfahren, was noch da ist und was schon wieder fehlt und stellen in einer ausführlichen Diskussion eine "Wunschliste" zusammen. Gesamtkosten etwa 20.000,-DM. |
Das Gespräch wird sehr oft unterbrochen durch das arbeitende Krankenhauspersonal. Wir interpretieren die zu beobachtende Hektik als ein positives Zeichen für die Leistungsfähigkeit des Krankenhauses. Es hat sich vielleicht herumgesprochen, dass es hier Medikamente gibt.
Ein paar Daten: Das Krankenhaus hat 400 Betten und beschäftigt
etwa 100 Ärzte. Dreißig davon arbeiten auf der Intensivstation,
die über 18 Betten verfügt. Der Personalschlüssel ist also
sehr gut. Weniger gut ist die Laborausstattung. Ein
Blutanalysegerät, das Frau Thatcher dem Krankenhaus vor fünf
Jahren geschenkt hat, kann dank unserer Chemikalien jetzt wieder
arbeiten. Eine ausführliche Diskussion gab es um ein vorhandenes
Osmometer, an dessen Unbrauchbarkeit wir zunächst zweifelten,
bis der zuständige Labortechniker die Probleme erklärte: Das
Gerät ist als erstes medizinisches Instrument in einer
russischen Flugzeugfabrik gebaut worden. Auch als es noch
funktionierte war es praktisch nutzlos. Zur Blutanalyse wurden 30
Milliliter Blut und fünf Stunden Zeit gebraucht. Zudem waren die
Werte sehr ungenau. Eine Reparatur kommt also nicht in Frage. Wir
wollen deshalb versuchen, ein gebrauchtes Osmometer zu bekommen.
Kosten: Zwischen 5000,- und 10.000,-DM.
Wir bekommen im Krankenhaus Mittagessen, und es wird später, als
Raffi und Armen miteinander abgesprochen haben. Jemand vom
Krankenhaus bringt uns zur Deutschen Botschaft, wo Armen schon
wartet, verständlicherweise etwas ungeduldig, denn der
Erzbischof wartet schon auf uns.
Der Erzbischof von Eriwan, Herr Nersissian, hat schon die erste
Delegation des Posaunenchores im September 1993 kennen gelernt.
Er spricht sehr gut Deutsch, weil er eine Zeit lang eine
armenische Gemeinde in Deutschland betreut hat. Eigentlich sollte
man ihn mit "Eminenz"(oder armenisch "Garegin")
ansprechen. Ich empfand das als sehr unpassend, weil die Atmosphäre
bei unserem Gespräch sehr locker war. Der Bischof ist zur Zeit
reichlich im Stress, weil er neben dem Erzbistum in Eriwan, zu
dem zwei Millionen Einwohner, also der größte Teil Armeniens
gehören, auch noch Aufgaben in Etschmiadsin hat. Er ist
Stellvertreter des Katholikos, also des Oberhauptes der
Armenischen Kirche, und dieser ist 86 Jahre alt und kann nicht
mehr alle Aufgaben wahrnehmen.
Der Bischof erzählt von der Not, vor allem im letzten Winter.
Viele Menschen suchen bei der Kirche Hilfe, und oft kann er
einfach nichts tun. Die politische Lage sei durch die Not äußerst
instabil, und die Kirche müsse deshalb zur Beruhigung der
Menschen beitragen, damit sie nicht so leicht durch radikale
Politiker aufgehetzt werden können. Es ist besorgniserregend,
dass die jetzige Regierung weitere demokratische Wahlen einfach
aussetzt, aus Angst, die Macht zu verlieren. Dass die Bevölkerung
mit der Regierung sehr unzufrieden ist, haben wir mehrfach
erfahren. Die 160 brandneuen Polizeiautos, die einem überall in
der Stadt begegnen, tragen erheblich dazu bei. Beängstigend ist
auch, dass die Geburtenrate in Armenien in den letzten Jahren auf
ein Zehntel gesunken ist.
Die armenische Kirche versucht mit ihren relativ bescheidenen
Mitteln, der Not zu begegnen. In fünf Städten werden öffentliche
Küchen betrieben, in denen insgesamt 1000 bedürftige Menschen
versorgt werden. Waisen und Halbwaisen werden durch die
armenische Kirche unterstützt. Das zuständige "Orphan
Sponsorship Office" verwaltet eine Kartei mit 14.000 Kindern.
Monatlich können zur Zeit etwa 1500 Kinder mit jeweils 10 Dollar
unterstützt werden. Wir hatten schon vorher von diesem Hilfsfond
gehört und zweitausend Dollar von unserem Spendenkonto
mitgebracht. Der Direktor des Waisenkinderbüros, Herr Zulikian,
kommt. Es wird ein Vorschlag ausgearbeitet, den wir sehr gut
finden: Sechzehn Kinder sollen ein Jahr versorgt werden. Wir
bekommen am Mittwoch Namen, Adressen, Telefon und Bilder
und sorgen dafür, soweit möglich, alle kennen zu lernen. Der
Termin wird um vierzehn Uhr angesetzt.
Wir sprechen noch über andere Projekte. Der Bischof erzählt von
der großen Hilfe durch das Deutsche Diakonische Werk, das vor
allem Medikamente im Wert von mehreren Millionen Mark geliefert
hat,
Ich erkundige mich nach einer Druckerei, für die vor einigen
Jahren eine Schweizer Bibelgesellschaft eine Spendenaktion
durchgeführt hat. Das Projekt ist leider gescheitert. 50.000
Bibeln in modernem Armenisch kann die Kirche dennoch bald drucken.
Die Armenisch Orthodoxe Kirche will sich auf diese Weise auf das
1700-jährige Jubiläum im Jahre 2001 vorbereiten, das nicht nur
ein Fest werden soll, sondern auch als missionarische Gelegenheit
verstanden wird.
Es entsteht ein theologisches Gespräch. Ich versuche, in etwa
den Bischof zu zitieren: "Man kann den Glauben, z.B. die
Sakramente, nicht erklären. Wir stützen uns auf die Bibel, der
Heilige Geist hilft uns dabei. Theologie hilft mir, meinen
Glauben klar zu durchleuchten. Es kommt aber darauf an, den
Glauben praktisch zu leben. Die armenische Kirche steht vor
realen, praktischen Aufgaben."
Wir bekommen auch erklärt, was es mit der sogenannten
monophysitischen Lehre der Armenisch Orthodoxen Kirche auf sich
hat. Nämlich eigentlich nichts, was im Glaubensleben der
Menschen Niederschlag findet. Es geht um die Frage, ob die göttliche
und die menschliche Natur, die Jesus in der Bibel zugesprochen
werden, einen Gegensatz oder eine Einheit bilden. Die Theologie
der armenischen Kirche betont letzteres und wird deshalb
monophysitisch genannt.
Da unsere Pläne, am Mittwoch nach Gumry zu fahren, nun endgültig
gescheitert sind, bietet der Erzbischof an, im September zusammen
mit Armen eine Fahrt dorthin zu organisieren. Er will selbst
mitfahren.
Wir bekommen noch eine andere Einladung für Mittwoch: Anlässlich
des internationalen Tages des Kindes findet in einem
Jugendzentrum, das die armenische Kirche vom Staat übernommen
hat, ein Tag der offenen Tür statt. Mehr dazu weiter unten.
Übrigens gibt es auch die Möglichkeit, eine Art Jugendaustausch
mit der Armenischen Kirche zu organisieren. So haben zum Beispiel
im letzten Sommer amerikanische und armenische junge Leute im
Alter zwischen 16 und 25 Jahren gemeinsam Häuser für arme
Familien errichtet. Für solche und ähnliche Projekte werden
interessierte Jugendgruppen gesucht. (!)
Abends um sechs sind wir bei Professor Budagian. Er ist Geiger
und Musiktheoretiker am Eriwaner Konservatorium. Das
Konservatorium hat einen Hilfsfond für bedürftige Familien gegründet.
Wir hatten über die "Armenienhilfe Konstanz e. V."
davon erfahren, und beschlossen, die Arbeit zu unterstützen.
Professor Budagian wirkt wie ein "typischer Professor":
Klein, mit Glatze und viel zu großer Brille. Ein sehr höflicher
und warmherziger Mann. Er begrüßt uns auf Deutsch. "Womit
kann ich behilflich sein?" Günter erklärt unser Anliegen,
dass wir sicher gehen wollen, mit unseren Spendengeldern die zu
erreichen, die es am dringensten brauchen.
Herr Budagian listet die hilfsbedürftigen Bevölkerungsgruppen
auf
Professor Budargian verdient zwei Dollar im Monat. Er wird von seinem in Deutschland lebenden Sohn unterstützt. Wir bekommen erklärt, welche Gelder durch den Hilfsfond ans Konservatorium gehen:
Wir machen Herrn Budagian den Vorschlag,
zusammen mit ihm notleidende Familien zu besuchen.
Er soll die Familien auswählen, Wir möchten
aber die Menschen, denen wir helfen, selbst
kennen lernen, wenigstens einige von ihnen,
soweit möglich. Der Professor ist einverstanden.
Wir verabreden uns für Dienstagnachmittag und
verabschieden uns. Wir essen bei Armen zu Abend. Vorher ist noch etwas Zeit, ich betrachte durch das Fenster die benachbarten Wohnblocks. Fast überall sind die Balkons zu geschlossen Räumen umgebaut. Auch Armens Zimmer ist ein solcher zugebauter Balkon, vielleicht sechs oder sieben Quadratmeter, 34 Quadratmeter waren von der kommunistischen Regierung damals für eine vierköpfige Familie vorgesehen. |
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Heute wohnen oft mehr Menschen in so einer Wohnung
zusammen, zum Beispiel: bei Armen und seinen Eltern lebt
noch seine Schwester, seine Nichte und eine entfernt
Verwandte, die in Eriwan studiert. Zum G1ück haben für
diese
Woche die verreisten Nachbarn ihre Wohnung zur Verfügung
gestellt, so dass es nicht ganz so eng ist.
Während des Essens wird es langsam dunkel. Eine
Petroleumlampe kommt auf den Tisch. Hinterher im
Treppenhaus sind wir auf Armens Taschenlampe angewiesen.
In der Dämmerung machen wir einen Spaziergang durch ein
altes Stadtviertel. Ein Gewitter zieht auf. Es ist windig
und staubig, ein bisschen wie im Krimi. Viele zerfallene
Hauser, Blechdächer und Hütten. Einige Neubauten von
Leuten, die offensichtlich Geld haben.
Zurück bei Raffi gibt es noch lange Gespräche. Zum
Beispiel über die deutsche Wiedervereinigung. Raffi
vergleicht: "In Germany no Schocktherapie, for us in
Armenia Schocktherapie" Nebenbei läuft das
russische Fernsehprogramm. Intourist macht Werbung für
Reiseangebote nach Mallorca. "Nur gesundes Haar ist
schön" wird auf deutsch verkündigt.
Die Armenienhilfe
eine Projektvorstellung
Wie alles begann
Es geht weiter
Erlebnisse und
Bekanntschaften in Armenien
Ausblick
Ein Reisebericht- Zur
Vorgeschichte
Der 1. Tag der Reise
Der 2. Tag der Reise
Der 3. Tag der Reise
Der 4. Tag der Reise
Der 6. Tag der Reise
Der 7. Tag der Reise
1. Defektes Laborgerät
im Kindernotfallkrankenhaus
2. Brotstand in
Erivan